Die Europäische Menschenrechtskonvention und der Fall KlimaSeniorinnen

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Die Europäische Menschenrechtskonvention und der Fall KlimaSeniorinnen

Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) wurde am 4. November 1950 unterzeichnet und ist seither massgebend für den Schutz der Menschenrechte in Europa. Die Schweiz hat die EMRK 1974 ratifiziert. Im Jahr 2024 feiert die EMRK damit in der Schweiz ihr 50-jähriges Jubiläum. Mit dem wegweisenden Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Fall der Klima-Seniorinnen vom April 2024, das einen Zusammenhang zwischen Klimawandel und Menschenrechten herstellt, ist die Bedeutung der EMRK in den Fokus der öffentlichen Debatte gerückt.

Auf dieser Seite befinden sich Fragen und Antworten zur EMRK sowie zum Fall der KlimaSeniorinnen.

Fragen und Antworten zur EMRK

Was ist die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK)?

Die Europäische Menschenrechtskonvention ist ein Vertrag zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, der 1950 von den Mitgliedstaaten des Europarates unterzeichnet wurde. Die EMRK gilt bis heute als die wichtigste Rechtsgrundlage zum Schutz der Menschenrechte in Europa. Die Schweiz hat sie 1972 unterzeichnet. 1974 wurde sie dann ratifiziert, womit sie auch Teil der schweizerischen Rechtsordnung wurde. 

Was ist der Europarat?

Der Europarat ist eine zwischenstaatliche Organisation zur Förderung und zum Schutz der Menschenrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit in Europa. Der Europarat ist demokratisch aufgebaut und verfügt über verschiedene Organe.  

 

Die Schweiz ist dem Europarat 1963 beigetreten und ist seither vollwertiges Mitglied. Als Europaratsmitglied nimmt die Schweiz am Ministerkomitee teil, das aus den Aussenminister*innen der 46 Mitgliedstaaten besteht. Das Ministerkomitee ist das Entscheidungsorgan des Europarates, welches unter anderem dessen Politik festlegt.  

 

Darüber hinaus entsendet die Schweiz eine Parlamentarier*innendelegation, welche an der parlamentarischen Versammlung des Europarates teilnimmt.  Die schweizerische Delegation besteht aus 12 Schweizer Parlamentarier*innen aus dem National- bzw. Ständerat (sechs permanente Mitglieder und sechs Stellvertreter*innen). Sie vertritt die Interessen der Schweiz. Ausserdem stellt die Schweiz jeweils eine*n Richter*in, der*die am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) amtiert.  

 

Mit der Wahl Alain Bersets zum Generalsekretär des Europarates bekleidet ab Mitte September 2024 ein Schweizer das höchste Amt des Europarates. 

 

Der Europarat und seine Organe sollten nicht verwechselt werden mit der Europäischen Union (EU), der die Schweiz nicht angehört. Es handelt sich um zwei vollkommen verschiedene Institutionen – auch wenn die Namen ihrer Organe sich teilweise sehr ähneln. So ist die parlamentarische Versammlung des Europarates nicht zu verwechseln mit dem europäischen Parlament. Gleiches gilt für das Ministerkomitee des Europarates, das nicht dem europäischen Rat entspricht, welcher sich aus den Ministern der EU-Staaten zusammensetzt. Auch der Gerichtshof des Europarates, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mit Sitz in Strassburg sollte nicht verwechselt werden mit dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) mit Sitz in Luxemburg.  

Was ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)?

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mit Sitz in Strassburg ist ein Gerichtshof, der durch den Europarat eingesetzt ist. Seine Aufgabe besteht darin, die EMRK auf Einzelfälle anzuwenden. Er ist damit in Europa der oberste Gerichtshof in Sachen Menschenrechte und hat zu schwierigen ethischen Fragen rechtliche Standards gesetzt. Er steuert auch zur Auslegung der Menschenrechte bei und hilft nationalen Gerichten und Individuen zu verstehen, wie weit die Schutzpflicht der Staaten geht. Er wird daher auch als das «Gewissen Europas» bezeichnet.  

 

Einzelpersonen können direkt beim EGMR Menschenrechtsverletzungen geltend machen, nachdem sie erfolglos vor ihren nationalen Gerichten prozessiert haben. Urteile des EGMR sind rechtlich bindend, das heisst, dass die verurteilen Staaten ihnen Folge leisten müssen. Diese Kombination der Möglichkeit, dass einerseits Individuen Beschwerde führen können, und dass andererseits der EGMR verbindliche Entscheide fällt, macht die EMRK weltweit einzigartig.  

 

Die EMRK ist unter anderem wegen der Möglichkeit zur Individualbeschwerde massgeblich für den Schutz der Menschenrechte in Europa. Diese Möglichkeit gibt es zwar auch bei anderen relevanten Institutionen, wie z.B. den Vereinten Nationen, doch die entsprechenden Entscheide sind nicht verbindlich. Individualbeschwerden vor Gremien der UNO enden mit Empfehlungen an die betroffenen Staaten, nicht mit Urteilen.    

 

Am EGMR werden Fälle je nach Schwierigkeit entweder durch eine*n einzelne*n Richter*in, durch ein Komitee bestehend aus drei Richter*innen, in einer kleinen Kammer bestehend aus sieben Richter*innen oder in einer grossen Kammer bestehend aus 17 Richter*innen behandelt. 

Welche Bedeutung hat die EMRK für die Schweiz?

Vor fast 50 Jahren, im November 1974, hat die Schweiz die EMRK ratifiziert. Gemäss Art. 46 der EMRK verpflichten sich die Vertragsstaaten, «in allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befolgen». Mit der Ratifizierung der EMRK hat sich die Schweiz also auch verpflichtet, den Urteilen des EGMR Folge zu leisten.  

 

Die EMRK hat seit ihrer Ratifizierung einen erheblichen Einfluss auf die schweizerische Gesetzgebung und Rechtsprechung. Auch die Bundesverfassung der Schweiz, die aus dem Jahr 1999 stammt, ist stark von der EMRK und der Rechtsprechung des Gerichtshofes beeinflusst. Die EMRK trägt auch zur Harmonisierung der Menschenrechtsstandards in Europa bei. Die Rechtsprechung des EGMR erlaubt den Mitgliedstaaten so, sich durch gegenseitiges Lernen permanent in ihren Menschenrechtsstandards zu verbessern. 

 

Die Unterzeichnung der EMRK 1972 und ihre Ratifizierung 1974 waren rechtspolitische Errungenschaften. Nachdem die Schweiz 1963 als letztes westeuropäisches Land dem Europarat beigetreten war, drängte sich die Unterzeichnung der Konvention seit Jahren auf. Zunächst wollte der Bundesrat die EMRK wegen des fehlenden Frauenstimmrechts und der fehlenden Religionsfreiheit in der Schweizer Gesetzgebung nur unter Vorbehalt unterzeichnen, was aber nicht gestattet wurde. Die Einführung des Frauenstimmrechts war daher eine Bedingung dafür, der EMRK beitreten zu können. 

Wer kann Beschwerde gegen die Schweiz einreichen beim EGMR?

Grundsätzlich kann jede Person beim EGMR gegen einen Vertragsstaat Beschwerde wegen Menschenrechtsverletzungen einreichen. Eine Beschwerde beim EGMR ist aber nur dann möglich, wenn bereits alle innerstaatlichen Rechtsmittel ausgeschöpft wurden. Möchte man die Schweiz verklagen, so muss man vor dem EGMR darlegen, inwiefern man durch die Schweiz in seinen Menschenrechten gemäss EMRK verletzt worden ist. In der Regel können das nur Personen geltend machen, die sich in der Schweiz aufhalten oder bis vor kurzem in der Schweiz aufgehalten haben.

 

Auch Staaten können andere Vertragsstaaten wegen Menschenrechtsverletzungen verklagen. So hat etwa die Ukraine Russland wegen seiner Invasion verklagt, als Russland noch Mitglied des Europarates war.  

 

Beschwerden gegen Einzelpersonen, Unternehmen oder andere nicht-staatliche Organisationen wegen Menschenrechtsverletzungen, sind vor dem EGMR hingegen nicht möglich, da die Verantwortung für die Realisierung von Menschenrechten letztlich bei den Unterzeichnerstaaten liegt.  

Weshalb braucht es die EMRK, obwohl die Bundesverfassung der Schweiz bereits Grundrechte gewährt?

Die Bundesverfassung der Schweiz stammt aus dem Jahr 1999; sie ist also deutlich jünger als die EMRK. Die Grundrechte in der Bundesverfassung sind denn auch stark von der EMRK und von der Rechtsprechung des Gerichtshofes geprägt.  

 

Im Gegensatz zu vielen europäischen Staaten kennt die Schweiz nur eine sehr eingeschränkte Verfassungsgerichtsbarkeit. Das bedeutet, das Bundesgericht kann keine Bundesgesetze auf ihre Vereinbarkeit mit der Bundesverfassung überprüfen. Stattdessen können Bundesgesetze in der Schweiz auch angewandt werden, wenn sie gegen die Verfassung verstossen; nicht hingegen, wenn sie gegen die EMRK verstossen. Die EMRK bietet also einen gewissen Schutz gegen die fehlende Verfassungsgerichtsbarkeit in der Schweiz.  

 

Am wichtigsten ist aber, dass Menschenrechte nicht statisch sind, sondern dass sie sich fortlaufend entwickeln, sie fortlaufend auf neue Probleme angewandt werden müssen und wiederholt gegen alte verteidigt werden müssen. Der EGMR ist hierfür ein sehr wichtiger Impulsgeber. Von medizinisch unterstützter Fortpflanzung über Meinungsäusserungsfreiheit auf sozialen Medien bis zum Umgang mit künstlicher Intelligenz – der EGMR entwickelt menschenrechtliche Orientierungspunkte zuhanden der Gerichte und der Verwaltung zu einigen der schwierigsten ethischen Fragen der Zeit.  

 

Manchmal entwickelt er solche Orientierungspunkte auch anhand eines Falles aus der Schweiz, wie etwa im Fall der KlimaSeniorinnen (mehr Informationen zum Fall der KlimaSeniorinnen finden Sie weiter unten auf dieser Seite). Vor dem Bundesgericht hatten die KlimaSeniorinnen keinen Erfolg. Das Bundesgericht erkannte keinen Zusammenhang zwischen Klimaveränderung und Menschenrechten. Der EGMR hat diesen Zusammenhang hergestellt und damit international Standards gesetzt.  

Überwacht der Europarat mit dem EGMR den Menschenrechtsschutz der Schweiz?

Die Schweiz gerät nur dann in den Fokus des EGMR, wenn Beschwerde gegen sie eingereicht wird. Somit kann nicht von einer Überwachung gesprochen werden. Vielmehr handelt es sich beim EGMR um eine wichtige Kontrollinstanz zum Schutz der Menschenrechte.  

Setzt die Schweiz ihre Souveränität und Demokratie aufs Spiel, wenn sie die Urteile aus Strassburg umsetzt?

Nein, im Gegenteil. 1971 wurde der Beitritt zur EMRK vom Bundesrat offiziell vorgeschlagen. Der Vorschlag wurde im Parlament (Nationalrat und Ständerat) beraten. Beide Kammern stimmten dem Beitritt zu, nachdem ausführlich über die Vorteile und möglichen Herausforderungen diskutiert worden war. Die Schweiz hat sich also zunächst auf demokratischem Weg dazu entschieden, der EMRK beizutreten.  

 

Die EMRK wurde ausserdem im Laufe der Zeit durch verschiedene Zusatzprotokolle ergänzt, welche in der Regel auch von der Schweiz ratifiziert wurden. Die Zusatzprotokolle der EMRK unterstanden typischerweise dem fakultativen Referendum. Das bedeutet, dass alle, die diese Protokolle ablehnen, dazu eine Volksabstimmung hätten verlangen können.  

 

Zudem hat die Schweiz ein Mitspracherecht in den demokratischen Organen des Europarates.  Die Schweiz kann also – wie alle anderen Europaratsmitglieder – die Politik des Europarates mitbestimmen. Besonders hervorzuheben ist in diesem Kontext die Wahl von Alain Berset im Juni 2024 zum Generalsekretär des Europarates.  

 

 Ausserdem kann auch die EMRK in einem demokratischen Willensbildungsprozess weiterentwickelt werden und die Schweiz kann diesen Prozess stark beeinflussen. So geht etwa der sog. «Interlaken Prozess», mit dem der Gerichtshof effektiver gemacht werden sollte, auf eine Initiative der Schweiz zurück, die damals den Vorsitz im Ministerkomitee innehatte. Der EGMR ist also ein gemeinsames Gericht, (nicht ein fremdes Gericht) seiner 46 Mitgliedstaaten. Auch wenn er die Menschenrechtssituation in den Mitgliedstaaten mitgestaltet, wird er selber von seinen Mitgliedstaaten gestaltet. Wie jedes gemeinsame System bringt er gewisse Regeln mit sich, seine Mitglieder gehören ihm aber an, weil sie überzeugt sind, gemeinsam mehr gestalten zu können als allein. Das ist im Bund der Schweizer Kantone so, und im Bund der Mitgliedstaaten des Europarates. 

 

Schliesslich ist die Demokratie auf einen menschenrechtlichen Rahmen angewiesen. Es muss allen möglich sein, sich in Sicherheit und Fairness zu äussern, damit Demokratie funktionieren kann. Der Schutz der Menschenrechte stärkt daher immer auch die Qualität der Demokratie.  

Was geschieht, wenn ein Staat wegen Menschenrechtsverletzungen vom EGMR verurteilt wird?

 

Wird ein Staat für die Verletzung eines Artikels oder mehrerer Artikel der EMRK verurteilt, so wird der Fall an das Ministerkomitee des Europarates weitergeleitet. Dieses setzt sich aus den Aussenminister*innen aller Mitgliedstaaten zusammen. Das Ministerkomitee berät in der Folge mit dem betroffenen Staat über die Umsetzung des Urteils. Sofern erforderlich, ergreift der Staat daraufhin konkrete oder allgemeine Massnahmen, insbesondere Gesetzesänderungen.   

 

Weil es sich bei den Mitgliedern des Ministerkomitees selbst um Regierungsangehörige der Mitgliedstaaten handelt, stellt sich die Frage, ob das Ministerkomitee effektiv und unparteiisch arbeitet oder ob die Vertreter*innen der Mitgliedstaaten voreingenommen sind oder Interessenkonflikte haben könnten. Diese potenziellen Interessenkonflikte könnten die Unabhängigkeit des Ministerkomitees beeinträchtigen und die tatsächliche Durchsetzung der Urteile des EGMR erschweren. Wissenschaftliche Evidenz deutet jedoch darauf hin, dass die Umsetzung der Urteile des EGMR durch die Diskussion im Ministerkomitee nicht zu einer schwachen Durchsetzung führt. Im Gegenteil; der aktive Einbezug der verschiedenen Staaten ermöglicht einen konstruktiven Dialog, der tendenziell die Erhöhung der Menschenrechtsstandards in ganz Europa fördert. 

Fragen und Antworten zum Fall der KlimaSeniorinnen

Wer ist der Verein KlimaSeniorinnen?

Der Verein KlimaSeniorinnen ist eine schweizerische Non-Profit Organisation (NPO) mit über 2000 Mitgliedern, mehrheitlich bestehend aus Frauen im Alter von über 70 Jahren. In Zusammenarbeit mit Greenpeace setzt er sich auf juristischem Weg für Klimagerechtigkeit ein. Damit treten die KlimaSeniorinnen in die Fusstapfen der niederländischen Urgenda Foundation, die 2019 erstmals erfolgreich auf der Rechtsgrundlage der EMRK wegen unzureichender Reduktion von Treibhausgasemissionen geklagt hat (allerdings nur vor nationalen Gerichten). 

 

Von der Klimaveränderung sind alle betroffen, aber nicht alle gleich. Immer häufiger treten infolge der Klimaerwärmung Hitzewellen auf, die für Menschen im hohen Alter tödlich enden können. Die KlimaSeniorinnen fordern deshalb, dass der Staat seine Schutzpflichten ihnen gegenüber wahrnimmt. Die Schweiz trage zu wenig zur notwendigen Reduktion der CO2-Emissionen bei, um die Klimaziele des Pariser Klimaabkommens zu erreichen. Dazu gehört das Ziel, eine globale Erwärmung auf unter 1.5 Grad zu halten.  

Worum geht es beim Fall der KlimaSeniorinnen beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)?

Der Verein legte Beschwerde beim EGMR ein, in der er beanstandete, dass die Menschenrechte seiner Mitglieder aufgrund der Folgen des Klimawandels verletzt würden.  

 

Um ihren Schutzpflichten gerecht zu werden, hätte die Schweiz die notwendigen Massnahmen zur Sicherung des Lebens und der Gesundheit von älteren Personen vornehmen sollen. Diese Massnahmen umfassen unter anderem die Reduzierung der CO2-Emissionen in einem solchen Ausmass, dass die Schweiz ihrem Beitrag zur Erreichung eines globalen 1,5-Grad-Ziels nachkommt. Diese Verpflichtungen habe die Schweiz nicht erfüllt.  

 

Die Beschwerde vor dem EGMR betraf insbesondere die Verletzung des Rechts auf Leben (Art. 2 EMRK) sowie des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK). Ausserdem sahen sich die KlimaSeniorinnen in ihrem Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6 EMRK) verletzt, da die schweizerische Justiz nicht auf die Beschwerde eintrat.  

Wie verlief der Prozess der KlimaSeniorinnen?

In einem ersten Schritt wandten sich die KlimaSeniorinnen 2016 an den Bundesrat, das Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK) und das Bundesamt für Energie.  Sie forderten diese auf, Massnahmen zur Erfüllung der Ziele des Pariser Klimaabkommens einzuleiten. 

 

Nachdem das UVEK 2017 das Gesuch der KlimaSeniorinnen abwies, legte der Verein Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht ein. Das Bundesverwaltungsgericht erkannte die erhobenen Vorbringen nicht an, da laut dem Gericht ältere Menschen nicht im besonderen Ausmass unter den Folgen des Klimawandels leiden würden. 

 

Danach zogen die KlimaSeniorinnen den Fall weiter ans Bundesgericht, der höchsten juristischen Instanz in der Schweiz. Auch dieses wies 2020 die Beschwerde ab, mit der Begründung, dass die Anliegen der Beschwerdeführerinnen nicht auf dem Rechtsweg, sondern mit politischen Mitteln durchzusetzen seien.  

 

Nach Ausschöpfung der nationalen Rechtsmittel gingen die KlimaSeniorinnen mit ihrer Beschwerde vor den EGMR in Strassburg. Der Fall wurde 2022 direkt an die Grosse Kammer des EGMR verwiesen. Diese besteht aus 17 Richter*innen, welche die EMRK in besonders gewichtigen Fällen auslegen. Die grosse Kammer gab den Klägerinnen im April 2024 teilweise recht und verurteile die Schweiz wegen Verletzung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK) und des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 6 EMRK) (Recht auf ein faires Verfahren), nicht hingegen wegen einer Verletzung des Rechts auf Leben (Art. 2 EMRK).  Der Verein KlimaSeniorinnen überzeugte das Gericht davon, dass die Menschenrechte der älteren Frauen durch den unterlassenen Beitrag der Schweizer Behörden zum Klimaschutz verletzt wurden.   

 

Gleichzeitig mit dem Fall KlimaSeniorinnen gegen die Schweiz entschied die grosse Kammer des EGMR zwei weitere Fälle, in denen es um Menschenrechte und Klimaveränderung ging; Carême gegen Frankreich und Duarte Agostinho und andere gegen Portugal und 32 weitere Staaten. In beiden Fällen entschied die grosse Kammer einstimmig gegen eine Menschenrechtsverletzung.  

Was bedeutet das Urteil des EGMR im Fall der KlimaSeniorinnen?

Wie wichtig das Urteil KlimaSeniorinnen ist, wird sich mit der Zeit weisen müssen. Nach der Ansicht einiger Expert*innen schreibt das Urteil Rechtsgeschichte, für andere ist es ein Ausreisser, der kaum weitere Auswirkungen haben wird. Sicher ist: Das Urteil stellt einen Präzedenzfall dar, da erstmals ein internationales Gericht einen Zusammenhang hergestellt hat zwischen Klimaveränderung und Menschenrechten. Es ist daher recht wahrscheinlich, dass das Urteil wegweisend sein wird für die zukünftige Rechtsprechung des EGMR. Es hat nicht nur unmittelbare rechtliche Wirkung für die Schweiz, sondern setzt einen Massstab zum Thema Klima und Menschenrechte für ganz Europa. Das Urteil wird auch über Europa hinaus eine grosse Wirkung haben, denn überall auf der Welt sind Gerichte mit der Frage konfrontiert, wie Menschenrechte im Kontext der Klimaveränderung geschützt werden können.  

 

Die KlimaSeniorinnen beschreiben ihren Erfolg vor dem EGMR nicht nur als grossen Sieg für alle älteren Frauen, sondern auch für den Zugang zur Justiz in Europa.  

Wie reagierte die Politik auf das Urteil des EGMR?

Das EGMR-Urteil im Fall der KlimaSeniorinnen schlug hohe Wellen – jedenfalls in der Schweiz. In anderen europäischen Staaten fielen die Reaktionen unterschiedlich aus. Im nationalen Kontext wurde der Fall Objekt einer angeregten Mediendebatte und fand sogar seinen Weg in die nationale parlamentarische Debatte.   

 

Nationalrat und Ständerat sprachen sich im Juni 2024 in einer Erklärung an den Bundesrat dagegen aus, dem Urteil des EGMR weitere Folge zu leisten. Der EGMR habe bei der Auslegung des Falles die Grenzen zulässiger Rechtsprechung überschritten und die demokratischen Entscheidungsprozesse der Schweiz missachtet. Zudem sei das Subsidiaritätsprinzip verletzt worden.  

 

Damit stellte das Schweizer Parlament die Legitimität des EGMR in Frage und greift insbesondere das Herzstück des EMRK-Systems an, die Verbindlichkeit der Urteile des Gerichtshofes. Die Entscheidung darüber, wann ein Urteil umgesetzt ist bzw. ob weitere Massnahmen notwendig sind, ist Sache des Ministerkomitee des Europarats, in dem auch die Schweiz vertreten ist. 

 

Im August 2024 äusserte sich dann der Bundesrat zur Umsetzung des Urteils des EGMR. In seiner Stellungnahme anerkannte der Bundesrat: «Die EMRK und die Mitgliedschaft im Europarat (…) bleiben für die Schweiz von grosser Bedeutung». Allerdings ist er nicht bereit, auch tatsächlich zusätzliche Schritte zum Menschenrechtsschutz im Kontext der Klimaveränderung vorzunehmen. Seine Haltung ist, die Schweiz habe die klimapolitischen Anforderungen des Urteils im Fall der KlimaSeniorinnen bereits erfüllt.  

Wie schätzt die Schweizerische Menschenrechtsinstitution den Fall ein?

Die Erklärung der Bundesversammlung greift das Herzstück des europäischen Menschenrechts-System an und stellt die Kompetenz vom EGMR in Frage. Damit schwächt sie den Menschenrechtsschutz in ganz Europa.  

 

Auch die Haltung des Bundesrates ist nicht ganz klar bezüglich der  Verbindlichkeit der Urteile des Gerichtshofs für Menschenrechte. Dies, obwohl die Verbindlichkeit dieser Urteile ein Kernelement des Menschenrechtsschutzes in Europa ist. Die SMRI bedauert auch die Kritik des Bundesrates an der «weiten Auslegung der EMRK durch den EGMR»; dass die Rechtsprechung zur EMRK eine gewisse Dynamik hat, ist eine Voraussetzung dafür, dass sie als Konvention relevant bleiben und eine reale Schutzwirkung aufrechterhalten kann. 

 

Das Urteil des EGMR ist ausserdem nicht so revolutionär, wie es vom Schweizer Parlament dargestellt wird. Es beruht auf einer weit zurückreichenden Rechtssprechungstradition, welche davon ausgeht, dass die EMRK auf die jeweiligen Fragen der Zeit angewendet werden muss.  

 

Menschenrechte müssen weiterentwickelt werden und sich den Entwicklungen der sich stets ändernden Welt anpassen. Dazu gehört auch das Verhältnis zwischen dem Klimawandel und Menschenrechten, welcher im Falle der KlimaSeniorinnen erstmals von einem internationalen Gericht konkretisiert wurde.  

 

Der EGMR ist mit dem Urteil also seiner Kernaufgabe gerecht geworden und hat seine Kompetenzen nicht überschritten.  

Hat der EGMR mit seinem Urteil ein neues Menschenrecht auf eine saubere Umwelt oder auf ein gesundes Klima geschaffen?

Nein. Der EGMR hat mit seinem Entscheid vom April 2024 kein neues Menschenrecht geschaffen, sondern ein bestehendes Recht – das Recht auf Schutz der Gesundheit – auf ein relativ neues Risiko für die Gesundheit angewandt: den Klimawandel.  

Setzt sich die SMRI für ein Recht auf ein gesundes Klima ein?

Die SMRI setzt sich insbesondere dafür ein, dass Urteile des EGMR, die auf bestehenden Rechten beruhen, respektiert werden. Im Fall der KlimaSeniorinnen sind dies das Recht auf Privat- und Familienleben (Art. 8 EMRK) sowie das Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6 EMRK). Die SMRI empfiehlt der Bundesversammlung in einem ersten Schritt, zu reflektieren, wie sie in ihrer Klimapolitik die bestehenden Menschenrechte bestmöglich schützen kann. 
  

Es gibt jedoch durchaus Stimmen, die sich explizit für ein Menschenrecht auf eine intakte Umwelt aussprechen. So plädiert das Europäische Netzwerk der Nationalen Menschenrechtsinstitutionen (ENNHRI), dem auch die SMRI angehört, für die Verabschiedung eines neuen verbindlichen Zusatzprotokolls zur EMRK, in dem ein Recht auf ein gesundes Klima verankert würde. Die SMRI unterstützt dieses Vorhaben. 

Bereits im Juli 2022 bekannte sich auch der Bundesrat zu seinem Engagement für die Etablierung eines solchen Rechts. In einer Medienmitteilung betonte er, dass die Schweiz als Mitinitiantin einer Resolution in der UNO-Generalversammlung dazu beigetragen habe, «dass das Recht auf eine saubere, gesunde und nachhaltige Umwelt als eigenständiges Menschenrecht anerkannt wird». Die Schweiz sah sich in der Rolle als Brückenbauerin, die dazu beigetragen habe, «bestehende Blöcke zugunsten einer multilateralen Lösung zusammen zu bringen».