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Klimaseniorinnen: Die Schweiz behauptet, ihre Klimapolitik sei ausreichend, die SMRI ist (mit Verlaub) anderer Meinung
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Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat in seinem bahnbrechenden Urteil im Fall der Klimaseniorinnen festgestellt, dass die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) den Schutz vor negativen Auswirkungen des Klimawandels auf das Leben, das Wohlergehen und die Lebensqualität umfasst. Der Gerichtshof kam deshalb zum Schluss, dass der rechtliche Rahmen der Schweiz im Bereich des Klimaschutzes gegen ihre menschenrechtlichen Verpflichtungen verstösst. Der EGMR stellte zudem fest, dass die Schweiz das Recht auf Zugang zu einem Gericht verletzt hat, da die nationalen Gerichte die Klage des Vereins Klimaseniorinnen nicht ausreichend geprüft haben.
Im Juni und August 2024 erklärten die beiden Kammern des Parlaments und der Bundesrat, dass die Schweiz die klimapolitischen Verpflichtungen aus dem Urteil in Bezug auf die Klimapolitik bereits erfülle. Das SMRI zeigte sich besorgt über diese Erklärungen, da sie das beunruhigende Signal aussenden, dass die Schweiz die Verbindlichkeit der Urteile des EGMR nicht vollumfänglich akzeptiert.
Die endgültige Entscheidung darüber, ob die Schweiz ausreichend handelt, liegt jedoch beim Europarat (siehe unten). Die Schweiz hat deshalb einen „Aktionsbericht“ eingereicht, um zu zeigen, dass ihre bestehende Klimapolitik klar und ehrgeizig genug ist.
Wenig Einschränkungen, externalisierte Verantwortung und methodische Mängel
Im Rahmen ihres Mandats hat die SMRI eine eigene Stellungnahme in Strassburg eingereicht, in der sie darlegt, dass der Aktionsbericht der Schweiz zu wenig klar und ehrgeizig ist, um die menschenrechtlichen Vorgaben zu erfüllen. Die Hauptargumente lauten wie folgt:
Im Aktionsbericht spricht die Schweiz den Emissionsbudgets das Potenzial zur effektiven Emissionsbegrenzung ab. Ihr „Budget“ gleicht weitgehend einer blossen Berechnung der Menge an Treibhausgasemissionen, die sie emittieren möchte. Es fehlen die sonst mit einem Budget verbundenen Begriffe der Begrenzung und der Massnahmen, die notwendig sind, um das Ziel zu erreichen.
Auch mit diesem Spielraum hat die Schweiz nur einen Teil ihrer zukünftigen Emissionen in die Berechnung mit einbezogen. Einerseits scheint sie die im Ausland verursachten Emissionen nicht zu berücksichtigen. Zum anderen stützt sie sich auf Kompensationsmechanismen, wie den Kauf von Emissionsrechten anderer Staaten, um ihre Reduktionsziele zu erreichen.
Damit bleibt unklar, wie das vorgeschlagene Budget mit dem globalen 1,5°C-Ziel des Pariser Klimaabkommens zusammenhängt. Um dieses Ziel zu erreichen, müsste die Schweiz ihre Emissionen schneller und früher reduzieren. Zudem ordnet die Schweizer Gesetzgebung ihre Emissionsziele der wirtschaftlichen Tragbarkeit unter und ignoriert damit die Dringlichkeit des Klimawandels für die Wahrnehmung der Menschenrechte.
Die Schweiz begründet das Fehlen eines klaren Budgets mit dem Fehlen eines internationalen methodischen Konsenses. Auch wenn dies zutrifft, ist die Schweiz verpflichtet, proaktive Massnahmen zu ergreifen, um die Rechte der Europäischen Konvention zu gewährleisten. Darüber hinaus sind die Staaten verpflichtet, eine transparente Methodik zu wählen, zu erläutern und zu verteidigen, was die Schweiz in ihrem Aktionsbericht nicht getan hat.
Entgegen den Behauptungen der Schweizer Behörden können Vereine in Klimafällen durchaus klagebefugt sein, wenn sie die vom EGMR aufgestellten Kriterien erfüllen.
Lesen Sie die vollständige Stellungnahme
Sollte die Schweizer Umsetzung des EGMR-Urteils akzeptiert werden, würde dies einen bedauerlichen Präzedenzfall schaffen. Das Potenzial des Klimaseniorinnen-Urteils, strengere Verpflichtungen für Staaten zur Förderung des Klimaschutzes und der Rechte der vom Klimawandel am stärksten Betroffenen zu schaffen, würde damit weitgehend zunichte gemacht.
Das Ministerkomitee des Europarates in Strassburg (siehe unten) wird Anfang März über die Angelegenheit entscheiden.
Was geschieht nach einem EGMR-Urteil?
Eine Besonderheit des Menschenrechtssystems des Europarates ist, dass die Entscheidungen des Gerichtshofs bindend sind. Sobald der EGMR ein Urteil gefällt hat, wird dessen Umsetzung von einem anderen Organ des Europarates, dem Ministerkomitee, überwacht. Dieses setzt sich aus den Aussenminister*innen der Mitgliedstaaten des Europarates zusammen. Das Ministerkomitee trifft sich regelmässig und beurteilt letztendlich, ob ein Staat ein Urteil des EGMR umgesetzt hat. Mit anderen Worten: Es sind die Minister*innen jedes Landes, einschliesslich der Schweiz, welche die Massnahmen ihrer Kolleg*innen bewerten – und nicht die Richter*innen des EGMR.
Warum hat die SMRI eine Stellungnahme eingereicht?
Nationale Menschenrechtsinstitutionen (wie die SMRI) können dem Ministerkomitee Stellungnahmen zur Umsetzung von Urteilen einreichen. Diese Stellungnahmen ergänzen die Informationen des Staates – in diesem Fall der Schweiz – und helfen dem Komitee, eine fundierte Entscheidung zu treffen.
Eine besondere Rolle bei der Umsetzung von Urteilen spielen die nationalen Menschenrechtsinstitutionen. Ihre Aufgabe ist es, internationale (und europäische) Verpflichtungen in umsetzbare Politiken zu übersetzen. Die Urteile des EGMR sind wesentlich für die Klärung der Verpflichtungen aus der Europäischen Menschenrechtskonvention, welche die Schweiz ratifiziert hat – entgegen mancher Kritik ist dies gerade die Rolle des Strassburger Gerichtshofs und keine unzulässige Überschreitung seines Mandats.
Weitere Informationen über die Europäischen Menschenrechtskonvention und den Fall Klimaseniorinnen