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Klimaseniorinnen: Die Schweizer Menschenrechtsinstitution ist besorgt über die «Erklärung» der Bundesversammlung
Heute ist die «Erklärung» zu «Klimaseniorinnen und andere gegen die Schweiz» vom Nationalrat als Zweitrat verabschiedet worden. Die Schweizerische Menschenrechtsinstitution ist besorgt über diese «Erklärung».
«Die Verbindlichkeit der Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) ist das Herzstück des europäischen Menschenrechts-Systems, jenes Element, das dieses System weltweit einzigartig und zu einem Vorbild macht», sagt Véronique Boillet, Vorstandsmitglied der SMRI und Professorin für Öffentliches Recht an der Universität Lausanne. «Dieses Herzstück ist direkt angegriffen, wenn die Bundesversammlung den Bundesrat dazu auffordert, dem Urteil keine weitere Folge zu geben», sagt Boillet. «Denn die Verbindlichkeit der Urteile des EGMR bringt es mit sich, dass es nicht Sache des Schweizer Parlaments ist, darüber zu entscheiden, wann ein Urteil umgesetzt ist und wann dafür weitere Massnahmen notwendig sind. Diese Aufgabe kommt dem Ministerkomitee des Europarats zu, in dem die Schweiz durch den Bundesrat vertreten ist.»
Dieses Herzstück anzugreifen, untergräbt die Legitimität und den Handlungsspielraum des Gerichtshofes grundlegend. Die «Erklärung» der Bundesversammlung schwächt damit den Menschenrechtsschutz in ganz Europa.
Weit zurückreichende Rechtsprechung
In der Ratsdebatte wurde der Eindruck vermittelt, der Gerichtshof hätte eine rote Linie überschritten, indem er den Schutz der Menschenrechte auch auf die Frage der Klimaveränderung anwende. Der Gerichtshof hat seinen Entscheid aber auf einer weit zurückreichenden Rechtsprechungstradition aufgebaut.
Diese besteht darauf, dass die Europäische Menschenrechtskonvention ein lebendiges Instrument ist und auf die jeweiligen Fragen der Zeit angewendet werden muss. Zudem hält sie fest, dass Staaten eine Handlungspflicht trifft, ihre Einwohner*innen vor den Folgen menschgemachter Umweltveränderung zu schützen. Es ist befremdlich, dass die Bundesversammlung die Legitimität dieser Rechtsprechungstradition nun plötzlich in Frage stellt.
Der Ball liegt beim Bundesrat
«Es gibt keine Alternative dazu, Menschenrechte weiterzuentwickeln; nur schon, weil die Welt sich verändert, in der Menschenrechte eine Wirkung zum Schutz der Freiheit und der Würde von Menschen entfalten müssen», sagt Stefan Schlegel, der Direktor der SMRI. «Die menschgemachte Klimaveränderung wird das Leben, die Gesundheit, die Sicherheit und das Eigentum von Menschen grundlegend gefährden. Es wäre daher abwegig, eine Beziehung zwischen der Klimaveränderung und den Menschenrechten abzustreiten.»
In den drei Entscheiden vom 9. April 2024 hat der Gerichtshof diese Beziehung nun erstmals konkretisiert. Er hat dabei nicht etwa ein neues Recht auf Klimaschutz entwickelt, sondern ein bestehendes Recht – das Recht auf Schutz der Gesundheit – angewandt auf ein relativ neues Risiko für die Gesundheit: die Klimaveränderung. Solche Urteile beantworten zwar eine Rechtsfrage. Es ist aber unvermeidbar, dass sie auch politische Implikationen haben.
«Es stünde der Bundesversammlung gut an, zu reflektieren, wie sie in ihrer Klimapolitik die Menschenrechte möglichst gut schützen kann, statt zu überlegen, wie das Urteil des EGMR möglichst minimalistisch umgesetzt werden kann», sagt Stefan Schlegel. «Im Ministerkomitee des Europarates ist die Schweiz durch den Bundesrat vertreten. Er muss nun dafür die Verantwortung übernehmen, den Schaden zu limitieren und beim Europarat zu versichern, dass die Schweiz die Verbindlichkeit von Urteilen des Gerichtshofs weiterhin anerkennt.»
Menschenrechte sind eine Voraussetzung für Demokratie
Ein weiteres Merkmal der Debatte im Parlament war die starke Betonung eines Spannungsfeldes zwischen (direkter) Demokratie und einer innovativen Rechtsprechung durch Gerichte. Ein wirksamer Menschenrechtsschutz ist aber eine Voraussetzung für eine lebendige Demokratie. Nur wo alle frei sprechen können, können auch alle ihre Stimme erheben.
Menschenrechte erhalten ihre Wirkung in der Realität nicht dadurch, dass sie auf Papier stehen, sondern dadurch, dass es Gerichte gibt, die sie effektive anwenden. Es ist dabei normal und ein Zeichen funktionierender «Checks and Balances», dass Gerichte der Rechtsetzung gewisse Zielvorgaben machen, wie hier der EGMR der Schweizer Politik. «Der Gerichtshof hat der Schweiz aber nur die Ziele vorgegeben. Die Massnahmen auszuwählen, bleibt Sache der Politik, das hat auch der Gerichtshof explizit so festgehalten», unterstreicht Véronique Boillet. Und Stefan Schlegel ergänzt: «Durch eine Rechtsprechung, die der Politik Impulse gibt, hat der EGMR seine Rolle nicht verletzt, im Gegenteil, er hat gerade seine Kernaufgabe wahrgenommen.»
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Noémi Manco, Leiterin Kommunikation (FR, EN, IT)
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Stefan Schlegel, Direktor (DE, FR, EN)
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Véronique Boillet, Vorstandsmitglied (FR, EN, DE)
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