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SMRI-Forum «50 Jahre EMRK in der Schweiz: Ein Jubiläum aus der Defensive»
Die EMRK, der die Schweiz vor 50 Jahren beitrat, hat einen enormen Einfluss auf die Grundrechte in der Schweiz. Kontroversen haben die Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in der Schweiz schon immer ausgelöst. Aber noch nie waren diese Kontroversen so grundlegend und so emotional wie im Jubiläumsjahr. Das hat mit einem markanten und schwierig einzuordnenden Entscheid zu tun: KlimaSeniorinnen gegen die Schweiz. Aus der Schweiz gibt es seither Widerstand innerhalb des Systems EMRK, aber auch gegen das System EMRK.
Die EMRK schliesst eine Schutzlücke
In ihrem Inputreferat skizzierte SMRI-Vorstandsmitglied Véronique Boillet die Bedeutung der EMRK für die Schweiz und ging auf die kritischen Stimmen ein, die dem europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vorwerfen, er greife zu stark in nationale Angelegenheiten ein. Sie erläuterte, dass das Schweizer Rechtssystem Grenzen für den Schutz der Rechte Einzelner aufweise, insbesondere wenn es um die Überprüfung von Bundesgesetzen auf ihre Vereinbarkeit mit den Grundrechten gehe. In solchen Fällen schliesse die EMRK also eine Schutzlücke.
Véronique Boillet ging auch auf die Kritik am Urteil «KlimaSeniorinnen gegen die Schweiz» ein. In diesem Fall entschied der EGMR, dass die Schweiz nicht genug unternehme im Kampf gegen die Klimakrise und dass sie dadurch das Recht auf körperliche Unversehrtheit älterer Frauen verletzt habe, die besonders unter den Folgen der Klimaveränderung leiden. Véronique Boillet betonte, die EMRK mit ihrem Gerichtshof, der die Konvention dynamisch auslegen könne, erlaube es, die Menschenrechte an aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen anzupassen. Die dynamische Auslegung ermöglicht es, menschenrechtlich auf neue Herausforderungen wie zum Beispiel den Klimawandel reagieren zu können.
Die Bedeutung der EMRK für die Schweiz wird durch Zahlen untermauert: Zwischen 1974 und 2021 gab es 8184 Beschwerden gegen die Schweiz beim EGMR, doch nur in 136 Fällen wurde das Land verurteilt – eine Quote von lediglich 1,6 %. Diese Zahl zeige, dass die Schweiz die Anforderungen der EMRK weitgehend erfüllt. Zudem habe die EMRK die Rechtsentwicklung der Schweiz in vielen Bereichen positiv beeinflusst, in einigen Fällen wurde kantonales Recht oder Landesrecht auch unmittelbar in Reaktion auf einen EGMR-Entscheid angepasst.
Abschliessend betonte Véronique Boillet, dass die EMRK keine Konkurrenz, sondern eine Ergänzung zur BV darstelle. Sie stärke den Grundrechtsschutz und ermöglicht es, Lücken im Schweizer Verfassungsrecht zu schliessen.
Wie viel Dynamik liegt drin?
Was ist heute die Rolle der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und wie weit darf die dynamische Rechtsprechung des EGMR gehen? Diese Frage stand im Mittelpunkt einer Debatte, bei der Ständerätin Mathilde Crevoisier Crelier (SP, JU) und Ständerat Andrea Caroni (FDP, AR) unterschiedliche Perspektiven einbrachten.
Mathilde Crevoisier Crelier, Präsidentin der Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur und Mitglied der Rechtskommission, betonte, dass der Beitritt der Schweiz zur EMRK in den letzten 50 Jahren wesentliche Fortschritte im Bereich der Menschenrechte angestossen habe. Sie wies darauf hin, dass die Einführung des Frauenstimmrechts in der Schweiz eine notwendige Voraussetzung für den Beitritt zur EMRK war. Dieses Beispiel verdeutliche, wie der Beitritt nicht nur bestehende Rechte gestärkt, sondern auch die Weiterentwicklung grundlegender gesellschaftlicher und politischer Rechte gefördert habe, Sie argumentierte, dass der Gerichtshof eine wichtige Rolle dabei spiele, Menschenrechte auch in neuen Kontexten zu schützen, von denen der Klimawandel lediglich ein Beispiel sei.
Andrea Caroni, Vizepräsident der Rechtskommission, hob hervor, dass er die EMRK als zentrales Schutzschild gegen staatliche Übergriffe sehe. Für ihn gibt es aus liberaler Sicht nichts Wertvolleres als Regeln, die staatliche Macht begrenzen und den Einzelnen schützen. Gleichzeitig äusserte er jedoch die Sorge, dass der Gerichtshof seiner Meinung nach zur Machtüberdehnung neige.
Zwischen Rechtsprechung und Politik
Moderator Stefan Schlegel, Direktor der SMRI, griff in der Diskussion die Spannungen zwischen den verschiedenen Staatgewalten auf. Wer habe hier die Grenzen überschritten? Der EGMR mit seiner dynamischen Auslegung oder das Schweizer Parlament, das dem Urteil entgegengetreten sei mit der Erklärung, dem Urteil solle «keine weitere Folge» gegeben werden?
Mathilde Crevoisier Crelier kritisierte die Erklärung des Parlaments und verglich das Verhalten des Parlaments mit dem eines «ado boudeur» («schmollender Teenie»). Sie wies darauf hin, dass die Schweiz als Vertragsstaat der EMRK verpflichtet sei, die Urteile des EGMR umzusetzen. Die dynamische Auslegung des EGMR habe eine zentrale Bedeutung und der Gerichtshof soll auch in Zukunft mutig bleiben, um den Herausforderungen der Zeit gerecht zu werden.
Andrea Caroni argumentierte, die EMRK dürfe nicht dazu verwendet werden, politische Entscheidungen zu erzwingen, die eigentlich in den nationalen Parlamenten getroffen werden sollten. Er kritisiert, dass der EGMR eine rote Linie überschritten habe, indem er ohne klaren Kausalzusammenhang zwischen Emissionen und Menschenrechtsverletzungen urteilte. Er fordert mit seiner Motion im Parlament, die dynamische Auslegung durch ein neues Zusatzprotokoll stärker einzugrenzen, das klare Grenzen für den Ermessensspielraum des Gerichtshofs festlege. Er argumentierte ausserdem, dass das Parlament im Rahmen der Gewaltenteilung legitimiert sei, Entscheidungen kritisch zu bewerten, ohne dabei die Bindung an die EMRK infrage zu stellen. Darin liege keine Abwertung der Menschenrechte, es gehe einfach darum, Zuständigkeiten klarzustellen, betonte er.
Ein zentraler Streitpunkt blieb die Frage, ob und wie der Klimawandel im Rahmen der Menschenrechte adressiert werden kann. Während Caroni den Klimawandel als ein globales Problem bezeichnete, das sich dem individuellen Rechtsschutz entziehe, argumentierte Mathilde Crevoisier Crelier, dass die Auswirkungen des Klimawandels Menschenrechte direkt berühren und deshalb in den Zuständigkeitsbereich des EGMR fallen müssten. Gerade die vulnerabelsten Personen seien besonders stark von den Folgen des Klimawandels betroffen und benötigen daher besonderen Schutz. Caroni hielt dem entgegen, dass der Klimaschutz durch politische Prozesse und nicht durch gerichtliche Entscheidungen vorangetrieben werden müsse.
Die Zukunft der EMRK
Abschliessend stellte Stefan Schlegel die Frage, ob das Urteil «KlimaSeniorinnen gegen die Schweiz» in Zukunft als Durchbruch oder als Beginn einer Legitimitätskrise der EMRK angesehen werde. Mathilde Crevoisier Crelier wies darauf hin, dass international kein vergleichbarer Aufruhr wie in der Schweiz wahrnehmbar sei. Sie sieht jedoch die Gefahr, dass populistische Rhetorik den Schutz der Menschenrechte in Frage stellen könnten. Andrea Caroni hofft, dass der EGMR sich auf seine Kernrolle besinnt und die Balance zwischen Fortschritt und Legitimität wahrt, um das Menschenrechtssystem langfristig zu schützen. Während Mathilde Crevoisier Crelier die EMRK als eine unverzichtbare Garantin für die Weiterentwicklung der Menschenrechte verteidigte, warnte Andrea Caroni nochmals vor einer Überdehnung der Kompetenzen des EGMR.
Die Diskussion offenbarte die Spannungen, die durch die dynamische Auslegung bei der Anwendung der EMRK entstehen können. Sie illustriert, wie die Schweiz sich weiterhin mit der Rolle des EGMR und der dynamischen Interpretation der Menschenrechte auseinandersetzen müsse, um deren Relevanz und Legitimität zu sichern.